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Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma

Sinti auf der Cranger Kirmes, um 1930
„Cranger Kirmes, Weichselstraße, Auschwitz“ -
Die Verfolgung der Sinti und Roma in Herne und Wanne-Eickel 1933 bis 1945

In der Öffentlichkeit von Herne und Wanne-Eickel wurden die Sinti und Roma vor allem im Kontext der Cranger Kirmes wahrgenommen. Für die Zeitgenossen gehörten die „Zigeuner“ genauso zu den Attraktionen der Kirmes wie die Fahrgeschäfte und die Losbuden. Dabei wurde die Wahrnehmung der Sinti und Roma von Stereotypen geprägt. Die „Pußtasöhne“ personifizierten einerseits ein romantisches Bild von Freiheit, Abenteuer und Ungebundenheit, andererseits galten sie als „arbeitsscheu“, „unsauber“ und „verschlagen“. Man akzeptierte sie als Bestandteil der Kirmes, wollte sie dann aber auch bald wieder aus der Stadt fort haben.
„Abseits, hinter der Herrstraße, hat eine Schar aus dem unvermeidlichen Train des Kirmesheeres, eine Horde Zigeuner, ihr Lager aufgeschlagen. Auch hierhin zieht sich ein großer Teil der Schaulustigen. Man demonstriert eine Abart Romantik, die mit der solchen Volksfesten zugrunde liegenden Kindlichkeit harmonisch zusammen klingt.“ (Wanne-Eickeler Zeitung, 9. August 1930)
„Die Vorboten des Pferdemarktes. Sie stellen sich allmählich ein, die Zigeuner, ohne die man sich gar keinen Cranger Pferdemarkt und auch nicht die Cranger Kirmes denken kann.“ (Wanne-Eickeler Volkszeitung, 4. August 1932)
Sinti und Roma auf dem Cranger Pferdemarkt, um 1930
Sinti auf dem Pferdemarkt, um 1930

Ab 1933 nahmen die Zeitungsberichte einen deutlich aggressiveren Ton an und gaben im Einklang mit der NS-Ideologie rassistisch-beeinflussten Sichtweisen mehr und mehr Raum. Parallel zu der von den Nazis erfundenen 500. Cranger Kirmes 1935 fand in Wanne-Eickel eine nationale Fachtagung des „Ambulanten Gewerbes“ statt, die, wie betont wurde, „voll und ganz auf dem Boden des Dritten Reiches stehe.“ Die Botschaft der Schaustellertagung ließ es an Deutlichkeit nicht mangeln: „Auch mit den Zigeunern im Schaustellerwesen, wie mit allen, deren Verhalten nicht der Würde entspricht, zu der jahrtausendalte Tradition verpflichtet, wird das ambulante Gewerbe gründlich aufräumen.“

Antisemitischen Propaganda.

Dessen ungeachtet ging die radikale ideologische Aufladung längst nicht so weit wie in der antisemitischen Propaganda. Noch 1936 konstatierte die Presse:
„Trotzdem will man die Zigeuner nicht missen. Sie gehören zur Cranger Kirmes wie das Amen am Ende eines Gebets. Sie tragen dazu bei, der Kirmes einen interessanten Anstrich zu verleihen.“ (Herner Anzeiger, 08. August 1936)
Trotzdem wurde der bereits aus der Weimarer Republik bekannte behördliche und ordnungspolizeiliche Antiziganismus fortgesetzt. Gab es in Herne bis 1935 noch mehrere innerstädtische Lagerplätze (im Cremershof an der Bahnhofsstraße, Lagerplätze an der Goethestraße und an der Flottmannstraße) wurde ab Dezember 1935 der Sportplatz an der abgelegenen Weichselstraße (heute ein Teil der Sodingerstraße) zur vorgeschriebenen einzigen Lagerstätte für die Sinti und Roma, die noch traditionell mit einem Wagen umherzogen und einem Wandergewerbe nachgingen. Diese Konzentration hatte auch den Aspekt einer vereinfachten Kontrolle durch die Ordnungspolizei. Direkt hinter der Stadtgrenze zu Wanne betrieb die Stadt Gelsenkirchen am Rhein-Herne-Kanal ein „Zigeunerlager“. Die Verwaltung klagte in langen Vermerken, dass sich auch viele Wanner Familien dort aufhielten. Insgesamt ist in Gelsenkirchen ein großes Interesse der Verwaltung an der vollständigen Abschiebung aller Sinti und Roma aus dem Stadtgebiet dokumentiert.

Eva Justin, Mitarbeiterin der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, bei der Bestimmung der Augenfarbe. Auch Sinti und Roma aus Herne und Wanne-Eickel wurden „rassisch“ kategorisiert
Eva Justin, Mitarbeiterin der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, bei der Bestimmung der Augenfarbe.

Der „Zigeunergrunderlass“ 1938
Der entscheidende Impuls zur Steigerung von Ausmaß und Intensität der Politik gegen die Sinti und Roma bis hin zur systematischen Verfolgung sollte aus dem „wissenschaftlichen Milieu“ erfolgen. Mit der Gründung der „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ unter Leitung von Dr. Dr. Robert Ritter in Berlin 1936 begann die systematische genealogische und rassistische Erfassung der Sinti und Roma im Reichsgebiet. Zusammen mit dem ein Jahr später gegründeten Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) entstand ein „wissenschaftlich-polizeilicher Komplex“, so der Essener Historiker Michael Zimmermann, der den Weg in den Völkermord bereiten sollte.
Das Zusammenspiel von Wissenschaft und Polizei mündete im Dezember 1938 in einem Erlass des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, in dem bestimmt wurde, dass zukünftig die „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ in Angriff genommen werden sollte.
Die Ausführungsbestimmungen dieses „Zigeunergrunderlasses“ enthielten klare Anweisungen für die lokalen Behörden, von der Ortspolizei bis zu den Standes- und Gesundheitsämtern. In den Wohnwagen auf dem Sportplatz an der Weichselstraße und in den Wohnungen der Sinti-Familien in der Stadt wurden nun Mitarbeiter des Gesundheitsamtes in Begleitung von Vertretern der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ vorstellig, um die „Zigeuner“ rassisch zu erfassen. Namenslisten wurden geschrieben, Stammbäume aufgestellt, Fingerabdrücke und Haarproben genommen, Schädel vermessen und Menschen rassisch kategorisiert:
Vermessungskarte von Malli Pohl
Die Vermessungskarte von Malli Pohl, 1936 in Wanne-Eickel geboren. Sie wurde am 1. Mai 1943 in Auschwitz ermordet

Festsetzung und Deportation

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden Sinti und Roma in den Städten „festgeschrieben“ und durften den Wohnort nicht mehr frei wechseln. Im Mai 1940 kam es zur ersten Umsiedlung von 2.500 „Zigeunern“ aus dem Reichsgebiet ins Generalgouvernement, wo sie verschiedenen Lagern und Zwangsarbeiterkolonnen zugeteilt wurden. Unter den Deportierten waren auch viele Mitglieder der Großfamilie Wernicke, die hauptsächlich in Wanne und Gelsenkirchen beheimatet war. Der 1910 in Wanne geborene Anton „Janusch“ Wernicke, ein Pferdehändler, der zuvor jährlich an der Cranger Kirmes teilnahm, kehrte im Mai 1942 als Zwangsarbeiter ins Ruhrgebiet zurück und wurde schließlich 1945 im KZ Dachau befreit. Die meisten anderen Mitglieder der Familie, wie der erst 1939 in Wanne geborene Günter „Tschufo“ Wernicke, starben entweder in einem der Ghettos und später in Auschwitz.
Dieser „ersten Teilmaßnahme“ folgten jedoch vorerst keine weiteren Schritte. In den folgenden Jahren hatte für die NS-Administration die Deportation der Juden aus dem Reich Vorrang. Erst als Ende 1942 die „Judenfrage“ für die Nationalsozialisten als weitgehend „gelöst“ galt, wandte man sich wieder der „Lösung der Zigeunerfrage“ zu.
Am 16. Dezember 1942 befiehlt Heinrich Himmler die Auswahl von „zigeunerischen Personen“, um deren Deportation in das KZ Auschwitz vorzubereiten. Dass die „Zigeuneraktion“ bevorstand, sprach sich bereits im Februar 1943 herum. Nach einem Tipp eines Bochumer Kripo-Beamten verkaufte zum Beispiel der Herner Fuhrunternehmer Willi Franz seine Pferde und sein Wohnungsinventar.
Am Morgen des 10.03.1943 erfolgte die Inhaftierung der Sinti und Roma durch Kriminalpolizei und Gestapo. Das Eigentum wurde beschlagnahmt, Geldbörsen eingezogen. Von Herne, Wanne-Eickel und Wattenscheid aus wurden die Sinti und Roma zum Güterbahnhof Bochum-Nord gebracht und von dort deportiert. Die Ankunft des Sammeltransportes in Auschwitz erfolgte drei Tage später am 13. März 1943. Dort wurden die Deportierten im eigens eingerichteten „Zigeuner-Familienlager“ in Auschwitz-Birkenau registriert und untergebracht. In den städtischen Melderegistern wurde schlicht vermerkt: „10.3.43 evakuiert worden“.
Auschwitz war nicht nur der zentrale Ort des Verbrechens an den europäischen Juden, auch ein Großteil der deutschen Sinti und Roma wurden dort ermordet. Bis zum Jahresende 1943 waren etwa 70 Prozent der Insassen des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz an Hunger und Krankheiten zugrunde gegangen, oder sie wurden Opfer der Selektionen. Am 2. August 1944 wurden bei der Auflösung des Lagers etwa 3.000 Insassen getötet. Fast alle nach Auschwitz Deportierten Frauen und Kinder kamen um, einigen gelangen es in Zwangsarbeiterkolonnen durch „kriegswichtige Arbeit“ Krieg und Völkermord zu überleben.

Der bereits erwähnte Herner Fuhrunternehmer Willi Franz wurde bei der Auflösung des Familienlagers einer Zwangsarbeiterkolonne zugeteilt. Er kam in das berüchtigte Außenlager von Buchenwald, das KZ Mittelbau Dora, und leistete dort Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie. Seine Befreiung erlebte er im KZ Bergen-Belsen, aber er überlebte sie nur wenige Tage. Von der britischen Armee in das Hilfskrankenhaus Celle eingeliefert, verstarb er dort am 27. Mai 1945 an den Folgen der entbehrungsreichen Lagerhaft und Zwangsarbeit. Insgesamt liegt die Zahl der während des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma bei mindestens 250.000 bis 300.000. In ihrer Sprache heißt der Völkermord „baro Porajmos“, ein Begriff, der mit „das große Verschlingen“ zu übersetzen wäre.

Das 2012 eingeweihte Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin
Das 2012 eingeweihte Denkmal in Berlin für die ermordeten Sinti und Roma.

2017-04-18